Dies ist ein wunderbares Buch, ein Schatz, den man aber respektvoll heben muss; mit Muße, mit Konzentration und Kontemplation. Leicht ist es nicht, so viel sei schon gesagt. Denn diesen Text kann man nicht mal eben so nebenbei erfassen, mit der flatterhaften Kurzaufmerksamkeit moderner Medienkonsumenten, mit unserem ständigen Hunger nach dem nächsten schnellen Reiz. Aber wer sich einlässt, wer eintaucht, wird belohnt. Zunächst ist es eine sehr genaue Milieubeschreibung des Lebens auf der Insel Guernsey zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Von Sorgen und Freuden, von Angst und Aberglauben im Alltag. Es ist aber natürlich auch ein Abenteuerroman, mit höchster Spannung und tiefsten Abgründen. Dazu, quasi als verbindendes Element, immer wieder wunderbare und kraftstrotzende Naturbeschreibungen, in diesem Fall vor allem Beschreibungen der See in all ihren Launen und Zuständen. Allerdings sind auch die nicht immer einfach zu lesen, sind oft weitschweifig und verworren und erfordern teilweise echte Ausdauer und auch Konzentration vom Leser. Dieses Buch zu lesen ist dafür auch eine der schönsten Arten, zu verlangsamen. Wer sich auf diesen wundersamen und für unsere Zeit so untypischen Text konzentriert, wird darin immer wieder schöne Dinge, Bilder und Gedanken entdecken. Der Plot ist recht schnell umrissen (Verlagstext): „Der Fischer Gilliatt ist ein Außenseiter, allein lebt er im Haus „Weges-Ende“. Den Menschen im Dorf erscheint er als seltsamer Kauz. Seit er beobachtet hat, wie Deruchette, die Nichte des Reeders, seinen Namen in den (auf Guernsey äußerst seltenen) Schnee geschrieben hat, kommt er gedanklich nicht mehr von dem Mädchen los – und lässt sich, um ihre Liebe zu erringen, auf einen dramatischen und furchtbaren Kampf mit den Naturgewalten ein. Beeindruckende, intensive Meeresschilderungen, der Konflikt zwischen Aberglaube und moderner Welt sowie eine gigantische Herkulesarbeit im Dienst der Liebe vereinen sich in Victor Hugos bereits zu Lebzeiten gefeiertem Roman zu einem wahrhaft ozeanischen Werk.“ Das kann man so sagen. Teils eher Pseudowissenschaftlich, folgt der Text eigentlich der Tradition der Romantik – der Einzelgänger Gilliatt, von der Gesellschaft missverstanden und missachtet, wendet sich der Natur zu. Victor Hugo gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller der Franzosen, noch heute ist er in Frankreich allgegenwärtig, in jedem Provinzkaff gibt es eine „Rue Victor Hugo“. „Die Arbeiter des Meeres“ soll, so Hugo, der dritte Band einer Trilogie sein, deren ersten beiden Bände „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Die Miserablen“ sind. Verhandelt werden darin die Themen Religion und Gesellschaft (Der Glöckner), Gesellschaft und soziale Abgründe (Die Miserablen) sowie eben Mensch und Natur (im vorliegenden Band). Wie man es vom mare-Verlag schon gar nicht mehr anders erwartet, ist auch dieses Buch, in einer kompletten Neu-Übersetzung von Rainer G. Schmidt, schön gemacht und liebevoll ausgestattet wie immer: im stabilen Schuber und versehen mit einigen Bonuskapiteln. Da gibt es ein Kapitel über die Kanalinseln, welches ursprünglich eine Art essayistische Einführung zum Buch hätte sein sollen, sowie einen Essay über das Meer und den Wind, ebenfalls von Victor Hugo, ein kluges Nachwort vom Übersetzer und die editorische Notiz zu dieser wunderbaren Ausgabe. Wie gesagt, ein Schatz!