Wilfried Erdmann darf ruhigen Gewissens als Deutschlands vielseitigster Vollblutsegler bezeichnet werden. Er segelte von 1966 bis 1968 einhand um die Welt. Unangekündigt, ohne Mitglied in einem Verein zu sein und damit auch ohne die dieser deutschen Erstleistung gebührende Anerkennung. Statt zu schmollen, segelte er von 1969 bis 1972 gleich noch mal auf der Barfußroute um die Welt – gemeinsam mit Ehefrau Astrid. Es folgte ein dreijähriger Südseetörn mit Frau und Sohn Kym. Die nonstop Einhand-Weltumsegelung auf der klassischen Route durch das Südpolarmeer 1984/1985. Als 60-Jähriger eine weitere Nonstop-Fahrt um die Welt. Einhand gegen den Wind. Dazwischen Jollentörns um Mecklenburg-Vorpommern im Jahr der deutschen Wiedervereinigung oder durch die dänische Südsee. Ostsee rund – lange bevor das zur beliebtesten Standardauszeit deutscher Segler wurde. Nordsee rund. Mit Gewinnern eines Preisausschreibens zwei Mal über den Nordatlantik. Zum Protest gegen französischen Atombombentests zum Moruroa-Atoll.
Wilfried Erdmann wurde 1940 im pommerschen Scharnikau geboren. Als Fünfjähriger flüchtete er mit seiner Mutter und dem drei Jahre jüngeren Bruder Klaus nach Mecklenburg. Der DDR kehrte Erdmann als 17-Jähriger den Rücken. Mit dem Rennrad fuhr er zu Verwandten nach Schleswig-Holstein. Doch damit war der Freiheitsdrang bei weitem noch nicht gedeckt. 10.500 Kilometer radelte er bis nach Indien, bestieg dort erstmals ein Segelboot und wusste fortan, was seine Bestimmung ist: das Segeln. „Mein Traum war nicht fixiert auf ein reicheres Leben, sondern auf ein anderes Leben.“
Wilfried Erdmann fuhr beruflich zur See, um das nötige Geld für ein eigenes Segelboot zu verdienen. „Zwischendurch“ trampte er durch Japan, arbeitete in Hamburg auf dem Bau oder als Plantagenarbeiter in den USA. Als 25-Jähriger kaufte er schließlich im spanischen Alicante die 7,60 Meter lange hölzerne Slup „Kathena“. Der Beginn seines Seglerlebens. Die 100 Buchseiten bis dahin helfen schon, sich in den künftigen Ausnahmesegler hinein zu fühlen, der „das Außergewöhnliche immer gesucht“ hat. Seiner ersten Weltumsegelung räumt Erdmann viel Platz ein. Seine Navigations-Kenntnisse (und die nötige Ausrüstung) wuchsen dabei erst allmählich, bei Frauen kam der Alleinsegler jedoch von Anfang an bestens an, der Motor funktionierte nicht, das Boot leckte erbärmlich, die Segel mussten ständig geflickt werden. Zurück in Deutschland erst massive Zweifel an der Wahrheit seiner Geschichte, dann großer Bahnhof, keine Anerkennung von offizieller Stelle. Egal. „Ich bin verliebt in das Meer. Mein Herz gehört ihm. Schluss.“ Er zog zu Freundin Astrid nach Düsseldorf, vermarktete seine Reise, heiratete Astrid wenig später und segelte mit ihr – als Hochzeitsreise – gemeinsam um die Welt.
Als Sohn Kym geboren und das Buch über die Hochzeitsreise geschrieben war, verdiente Wilfried Erdmann drei Jahre lang sein Geld mit der Segelschule „Kathena“. Chartertörns um Mallorca und Korsika hielten ihn so sehr auf Trab, dass er zum Ende der dritten Saison zusammenbrach. Ein dreijähriger Familien-Südseetörn erdete ihn danach wieder. Die erste Nonstop-Weltumsegelung machte ihn einem noch breiteren Publikum bekannt. Er tourte als Vortragsreisender durch die Republik und wurde von den Nachbarn im kleinen Ort Goltoft „Kleindarsteller“ genannt. Warum er sich das antat? „Es förderte den Buchverkauf und brachte Geld. Und ich merkte bald, dass die Menschen, die zu mir kamen, die Vorträge genossen. Dass man ihnen etwas mitgab: Unterhaltung, schöne Bilder, Spannung, gefährliche Wellen, eine runde Geschichte. Das freute mich.“ Erdmann fällt die endgültige Entscheidung, „für das Segeln und vom Segeln zu leben.“ Das tut er bis heute.
Wilfried Erdmann gewährt sehr offene, ehrliche Einblicke in sein inzwischen 74-jähriges Leben. Nach der Lektüre von „Ich greife den Wind“ gelingt es wieder etwas besser, zu verstehen, wie der 173 cm große Segler, der Unglaubliches geleistet hat, tickt. Sympathisch an Wilfried war immer und ist bis heute, dass er sich trotz der zum Überleben notwendigen Vermarktung seines Tuns nie zu stark verbogen hat. Sponsorensuche, Signierstunden etc. waren und sind Teil seines Berufsalltags. Aber noch immer ist er in der Lage, solche Handlungen kritisch zu hinterfragen und selbst gesteckte Grenzen nicht zu überschreiten. Er hat eine eigene Meinung und tut diese auch kund. Der Mann weiß, was er geleistet hat, was er kann. Doch trotz berechtigtem Selbstvertrauen driftet er nie ins Prahlerische ab.
Für seine Erinnerungen zitiert er mehrfach aus seinen Log-Tagebüchern oder aus den Reisetagebüchern seiner Mitreisenden. An die Zeit als Charterskipper auf Korsika erinnern Postkarten und Briefe an seine Frau Astrid. Von den Vorträgen über seine Reisen hat er die interessantesten Fragen aus dem Publikum, etwa zu seinem Verhältnis zu den segelnden Mitbewerbern auf dem Buchmarkt, notiert. Das macht die Lektüre abwechslungsreich und kurzweilig. Mehrere Weisheiten bleiben dabei im Gedächtnis: „Man muss tolerant veranlagt sein, um sich dem Willen von Wind und Wasser fügen zu können, ohne zuweilen das seelische Gleichgewicht zu verlieren“ etwa, oder „Wenn ein Mann große Pläne hat, sollte er zuerst seine Frau hinter sich bringen.“
Trotz „nur“ 637 Seiten statt der ursprünglich geplanten 1000 scheint mir die Biografie mit „Seemännischer Zeittafel“ und „Glossar“ ausreichend umfassend. Erdmanns Interview mit Dee Caffari nach deren Einhand-Weltumsegelung nonstop gegen den Wind erscheint mir gar ebenso entbehrlich wie manche wiederholende Erwähnung, etwa der Flucht aus der DDR. Das klare, edele Layout sorgt für ein hochwertiges Erscheinungsbild. Ob die Bilder zum Beginn der Kapitel so extrem beschnitten werden mussten? Darüber lässt sich ebenso streiten, wie über das Weglassen von farbigen Fotos. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen wurden jedenfalls gut gedruckt.
So unterstreicht diese gelungene, sehr lesenswerte Autobiografie die Klasse Wilfried Erdmanns: als Segler wie auch als Buchautor. Der Vergleich mit Bernard Moitessier ist sicher nicht zu hoch gegriffen.
Hier geht es zum großen Literaturboot-Interview mit Wilfried Erdmann