Die Buchmesse ist vorbei, was bleibt vom Gastland Brasilien? Dieser Beitrag unseres Autors Ole Schulz über Rio de Janeiro und die Literatur:
Zärtliche Umarmung
Wer die innige Beziehung der Brasilianer zu Strand und Meer verstehen will, muss Rio de Janeiro besuchen. Schon Stefan Zweig war von der Schönheit der Stadt an der Guanabara-Bucht begeistert. In seinem Reisebuch „Brasilien. Im Land der Zukunft“ preist er auch die Idee der Nation als ethnischer Schmelztiegel
Wer vom Atlantik an der Felsinsel „Ilha da Laje“ vorbei in die ausladende Bucht hineinsegelt, dem bietet sich ein betörender Anblick: Eine Bucht, die alles großzügig umarmt, kleine grüne Inseln wie als Farbtupfer auf dem bläulich schimmernden Seewasser, eingerahmt von anmutig geschwungenen Felsen und der Christusstatue auf dem Corcovado im Hintergrund.
Von der Schönheit der „Baía de Guanabara“ waren schon die portugiesischen Entdecker angetan, als sie am 1. Januar 1502 in die Bucht einliefen. Allerdings hielten sie die Guanabara-Bucht irrigerweise für die Mündung eines gewaltigen Flusses. Deshalb gaben sie der Bucht den Namen „Rio de Janeiro“, „Januar-Fluss“. Sie wussten nicht, dass „Guanabara“, die Bezeichnung der hier ansässigen Tamoio-Indianer, „Meeresarm“ bedeutet.
Seither ist die Guanabara-Bucht und später die Stadt Rio de Janeiro unzählige Male literarisch gepriesen und in vielen Sambas besungen worden. Noch über 500 Jahre nach der portugiesischen Inbesitznahme war es etwa der Schriftsteller Stefan Zweig, der sich trotz seiner deprimierten Verfassung dem lieblichen Reiz der Aussicht nicht erwehren konnte: Als Zweig, der sich vor den Nazis auf der Flucht befand, 1940 die „Guanabara“-Bucht zum ersten Mal vom Schiff aus sieht, ist er „fasziniert und gleichzeitig erschüttert“. Rio de Janeiro „breitet sich mit weichen, weiblichen Armen aus“, so der österreichische Literat, „es empfängt in einer weit ausgespannten zärtlichen Umarmung“. Rio verschmelze geradezu mit der Natur: „Alles ist hier Harmonie, die Stadt und das Meer und das Grün und die Berge, all das fließt gewissermaßen klingend ineinander.“
Anfang des Jahres hat der Insel Verlag Zweigs materialreiches Buch „Brasilien. Im Land der Zukunft“ als Taschenbuchausgabe neu aufgelegt. Zuerst war es 1941 erschienen – ein Jahr bevor sich der verzweifelte Zweig gemeinsam mit seiner Frau Stefanie im Bergstädtchen Petrópolis das Leben nahm. Zweig zeichnet in dem Buch – in bewusster Abgrenzung zum Rassenwahn der Nazis – ein vielleicht etwas zu optimistisches Bild der spezifisch brasilianischen „miscigenação“, der Mischung aus Weißen, Schwarzen und Indianern, doch es ist gleichwohl eine lesenswerte Abhandlung über ein Land im Aufbruch – in dem auch Rio de Janeiros natürliche Schönheit als Quelle nationaler Identität gewürdigt wird.
Heute ist Rio de Janeiro zwar ein „Concrete Jungle“, ein städtischer Moloch mit über zehn Millionen Einwohnern im Einzugsgebiet, ein Fünftel davon lebt in Favelas, wo das Leben häufig immer noch durch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Drogenbanden geprägt wird. Auch die Guanabara-Bucht ist heute natürlich nicht mehr so naturbelassen wie einst, und so wird die Szenerie Richtung Osten von der 1974 fertiggestellten, fast 14 Kilometer langen Autobahnbrücke Rio-Niteroí geprägt.
Aber was den „Cariocas“, wie Rios Bewohner genannt werden, keiner nehmen kann, ist das Meer vor der Haustür, kilometerweite Strände, von Flamengo über Botafogo, die Copacabana und Ipanema bis Leblon und Barra da Tijuca. Und weiterhin definieren sich viele Cariocas über das Strandleben – Rio ist eine Stadt, in der es bis heute zum guten Ton gehört, dass man mitten in den bürgerlichen Vierteln der „Südzone“ nur mit „Havaianas“ und Badehose bekleidet auf die Straße tritt und zum Meer schlendert. An Rios Stränden lässt sich auch gut beobachten, warum die Stadt die Wiege des brasilianischen „jogo bonito“ ist. Hier stehen Gruppen von Männern im Kreis und halten den Ball mit einer lässigen Leichtigkeit minutenlang in der Luft – egal ob am Strand im feinen Ipanema oder dem populären „Praia do Flamengo“. Den Ball müsse man streicheln wie eine Frau, heißt es am Zuckerhut. Möglichst kunstvoll wird der Ball weitergegeben, mit der Hacke, dem Kopf oder der Schulter. Manchmal sind es über zehn Ballartisten, darunter auch Frauen, die zum „althino“ zusammenstehen, dem Ballhochhalten. Mit Raffinesse, manchmal aber auch mit Tücke, um dem Mitspieler zu einer ungewöhnlichen Ballannahme zu nötigen, wird die Kugel weitergeleitet. Wichtig ist dabei, sich möglichst wenig zu bewegen. Sonst wäre es ja auch viel zu anstrengend bei 34 Grad in der Mittagshitze am Strand.
Solch lustvoller Schlendrian hat den Cariocas den Ruf eingebracht, unzuverlässig und faul zu sein – zumindest in den Augen der „Paulistas“, der Einwohner São Paulos. Diese wiederum gelten den Cariocas als langweilige, arbeitsame Streber. Beide Städte würden sich so „ein Leben lang wie zwei eitle Geschwister“ streiten, „die sich ins bessere Licht zu setzen suchen“, schreibt die Journalistin Cejana Di Guimarães. „São Paulo ist Materie, Rio ist Geist. São Paulo ist Beton, Rio Natur. São Paulo ist Kompetenz und Rio Schönheit, São Paulo ist Technik, Rio Talent.“ Dieser ewige Gegensatz sei nicht zuletzt den natürlichen Gegebenheiten geschuldet: „Wenn über der Steinwüste von São Paulo der Nebel liegt, leuchtet über den geschmeidig-grünen Granitkegeln Rios die Sonne.“
Die seit Juni anhaltenden Demonstrationen und Proteste in der „cidade maravilhosa“, der „wunderbaren Stadt“, zeigen gleichwohl, dass auch am Zuckerhut keinesfalls immer nur die Sonne scheint und „tudo bem“ ist, „alles gut“, wie die Brasilianer sonst gerne sagen. Doch trotz Preissteigerungen, Verdrängungsprozesssen und Veränderungen, die Rio im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 erlebt, bleibt die Stadt mit ihrer Mischung aus Tropen und Strand, Hochhäusern und Asphalt, ihren Hügeln und dem Meer die „Seele Brasiliens“, wie der Schriftsteller Paulo Scott unlängst bemerkt hat. Von seinem Arbeitszimmer aus kann Scott den Zuckerhut sehen – nur manchmal ist sein Anblick zu viel für ihn und er muss den Vorhang zuziehen, damit die Schönheit des Felsens ihn nicht überwältigt. „Rio de Janeiros landschaftlicher Reiz ist so groß, dass er Schwindel hervorruft; es ist eine Schönheit, an die man sich nie gewöhnt.“
Weitere Literatur über Brasilien:
Dawid Danilo Bartelt: Copacabana