Die Kubaner und das Meer

 

“La maldita circunstancia del agua por todas partes”

 

„Der verfluchte Umstand des Wassers von allen Seiten“

                                                                                                          Virgilio Piñera, 1943

 

Der Ausblick ist betörend. Von der Dachterrasse im 8. Stock schaut man nach Norden direkt auf den Malecón, die Hafeneinfahrt mit den mittelalterlichen Festungen aus blankem Stein und die offene karibische See. Dreht man sich nach Süden breitet sich vor einem die Altstadt Havannas aus, zerfressen von Zeit, Salpeter, Wind und Achtlosigkeit. Der Schriftsteller Pedro Juan Gutiérrez lebt seit 20 Jahren hier oben, für ihn ist es der „schönste Ort der Welt“: eine kleine Wohnung mit Meeresblick im obersten Stockwerk eines heruntergekommenen Hauses im Boston-Stil in der Straße San Lázaro hinter Havannas Uferpromenade, dem Malecón.

 

Hier oben hat sich Gutiérrez Bücher wie die „Schmutzige Havanna Trilogie“ oder „Animal Tropical“ von der Seele geschrieben. „Der Morgen dämmerte, und ich steckte den Kopf aus dem Fenster. Von hier oben aus ist es herrlich mit anzusehen, wie die Sonne über dem Meer aufgeht“, notiert Gutiérrez in der „Schmutzigen Havanna Trilogie“. „Gegen Abend schenkte ich mir ein Glas sehr starken Rum auf Eis ein und schrieb knallharte Gedichte. Um diese Stunde wird alles golden, und ich genoss den Ausblick. Ich trank gerne meinen Rum in dieser goldenen Dämmerung und sah dabei aus dem Fenster oder saß lange auf der Dachterrasse.“

Der „König von Havanna“, so der Titel eines der Bücher von Gutiérrez, ist so etwas wie der Chronist des Lebens in Centro Havanna seit Anfang der 90er Jahre, jener schwierigen Zeit nach dem Wegfall der sowjetischen Bruderhilfe, die in Kuba „periodo especial en tiempo de paz“, die Sonderperiode zu Friedenszeiten, genannt wird. Auch für Gutiérrez waren es harte Jahre, die er nach eigenem Bekunden nur überlebt hat, weil das Meer ihm die Kraft gab, in dem Chaos um ihn herum zu überleben: „Die Betrachtung der Ewigkeit ist ein gutes Mittel, um dem Mief der Schäbigkeit wenigstens einigermaßen zu entgehen.“

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Es begann mit einem großen Irrtum: Als Christoph Kolumbus am 28. Oktober 1492 im Nordosten Kubas vor Anker ging, wähnte er sich am Ziel seiner Träume. Es schien als habe er den westlichen Seeweg nach Asien gefunden. Auf die Versicherung der einheimischen Indianer hin, im Hinterland seien große Goldschätze gestapelt, mutmaßte Kolumbus, es handele sich um die Residenz des Großen Khan.

Den Stoßtrupp, den Kolumbus daraufhin ins Landesinnere entsandte, fand zwar nur eine Ansammlung von Palmhütten, doch er hielt dennoch an seiner fixen Idee fest.

Auf der zweiten Reise, die Kolumbus 1494 nach „Hinterindien“ unternahm, stieß er erneut auf die Insel Kuba, von der Kolumbus allerdings weiterhin glaubte, es müsse sich um einen Teil des chinesischen Festlandes handeln. Er segelte die Südküste Kubas entlang, wo die Weiterfahrt beim Golf von Batabanó durch die Seichtigkeit des Wassers behindert wurde. Als die Schiffsrümpfe Schaden nahmen und man immer noch kein Gold herbeigeschafft hatte, entschloss sich Kolumbus schließlich zur Umkehr.

Am 12. Mai 1494 kam es zu der denkwürdigen Szene, dass der Großadmiral die Mannschaft seiner Schiffe an Deck versammelte und sie einen Eid schwören ließ, wonach Kuba Teil des asiatischen Festlandes sei und keine Insel; wer diese Erkenntnis in Zweifel ziehe oder anders lautende Auffassungen verbreite, habe mit empfindlicher Strafe zu rechnen. „Dabei hätte ein bisschen mehr Beharrlichkeit genügt“, urteilt der Historiker Urs Bitterli, „durch Umschiffung des westlichen Kaps von San Antonio den Beweis vom Inselcharakter Kubas zu liefern, worauf im übrigen auch die Aussagen von Indianern hindeuteten.“

Doch der „Don Quixote der Ozeane“, wie Jakob Wassermann Kolumbus nannte, wollte diesen Beweis gar nicht antreten, hätte er doch sein geografisches Weltbild zerstört und damit auch seine ungebrochene Hoffnung die Goldschätze des Großkhans ausfindig zu machen. Was Kolumbus indes unsterblich machen sollte, war, dass er mit seiner beharrlichen Entdeckerleistung eine „Revolution der Phantasie“ (Jakob Wassermann) ausgelöst hatte.

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Die Kubaner und das Meer, das ist eine widerspruchsvolle Liebesbeziehung. Das Schicksal Kubas war jedenfalls immer eng mit der „maldita circunstancia“verbunden, jenem „verfluchten Umstand“, so der Dichter Virgilio Piñera Mitte des 20. Jahrhunderts, dass die größte Karibikinsel vom Meer eingeschlossen sei:

„Der verfluchte Umstand des Wassers von allen Seiten,

zwingt mich am Tisch des Cafés zu sitzen.

Wenn ich nicht daran denken würde,

dass mich das Wasser wie ein Krebsgeschwür umgibt,

hätte ich sorglos alle Viere von mir strecken können…

Mein Land, ach so jung, weiß sich nicht zu definieren! …

Keiner kann hier weg, keiner kann hier weg! …

Aber was nützt schon die Sonne in einem solch traurigen Land?“    

Der rigorose Standpunkt Virgilio Piñeras bleibt allerdings nicht unwidersprochen, „Virgilio Piñera war jemand, der sich an keinem Ort, in keiner Gesellschaft wirklich zu Hause gefühlt hat“, sagt der Schriftsteller Leonardo Padura. „Er war als Homosexueller ein gesellschaftlicher Außenseiter, sowohl vor wie auch nach der kubanischen Revolution von 1959.“ Für Padura ist und bleibt das Meer hingegen einer der „wichtigsten Referenzorte“ der kubanischen Kultur. „Wir leben in dem Bewusstsein, dass egal, wo man auf Kuba ist, die karibische See nicht weit entfernt zu allen Seiten liegt. Das Meer war lange Zeit der Weg, hierher zugelangen und auch die einzige Möglichkeit, die Insel zu verlassen. Das Meer ist für uns Kubaner der Weg in die Welt der Illusionen und manchmal auch in den Tod.

Es waren die spanischen Konquistadoren, die als selbsternannte „Entdecker“ als erste auf dem Seeweg nach Kuba kamen; später folgten ihnen dann die „Befreier“ der Insel: Rund 400 Jahre nach Kolumbus war es der kubanische Dichter und Freiheitskämpfer José Martí, der am 11. April 1895 heimlich über das Meer aus dem Exil kam, um am Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien teilzunehmen. Am 2. Dezember 1956 begann mit der Landung der „Granma“ und ihren 82 Passagieren auf Kuba schließlich der Guerillakampf Fidel Castros und seiner Gefährten gegen den von den USA gestützten Diktatoren Batista.

Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass heute viele Kubaner gerne wieder das Wagnis einer Überfahrt in einem überladenen Motorboot, wie es die „Granma“ war, auf sich nehmen würden – allerdings in entgegen gesetzter Richtung, um der Insel den Rücken zu kehren und zu emigrieren.

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Der Malecón: Die Uferpromenade ist bis heute der Ort, wo die „Habaneros“ hingehen, um sich zu entspannen und ihre Sorgen zu vergessen, um zu flirten oder ein Gläschen Rum zu trinken. Sechs lange Kilometer zieht sich der Malecón geschwungen von Havannas Altstadt bis zum einstigen Villenviertel Vedado. Einige halten Angelschnüre mit Haken ins Wasser und warten geduldig, dass ein Fisch anbeißt; andere treiben auf Schläuchen von Autoreifen im Meer und fischen. Manche Mutige klettern auch über die „Dientes de perros“, die Hundezähne, wie die vorgelagerten spitzen Felsen genannt werden, um ein Bad im lauen Nass zu nehmen. Die niedrige Mauer des Malecón ist aber vor allem ein beliebter Treffpunkt zum Händchenhalten – ein „Sofa für Verliebte ohne die Schwiegermutter im Rücken“, so der Autor Lucas Garve.

 

 

Der weltbekannte Steinwall am Malecón ist aber auch eine erste Barriere vor einem direkten Zugang zum Meer, den der Staat aus Angst vor weiteren Massenfluchten strengstens kontrolliert. Darum sieht man in der lang gestreckten Bucht Havannas auch kaum Fischerboote. Der Malecón ist heute ein Symbol dafür, dass das Meer für die Kubaner vor allem eine schwer überwindbare Hürde darstellt. Von der breiten Steinmauer aus sind es nur 90 Meilen bis Key West, Florida. Und von einem Leben im nahen Miami träumen weiterhin viele Kubaner, zumal sie wissen, dass für sie in den USA besondere „Einreisebedingungen“ gelten:

Jeder Kubaner, der es schafft, allen Gefahren einer illegalen Überfahrt zu trotzen, sich an der US-amerikanischen „Coast Guard“ vorbei zu schmuggeln und nur einen „trockenen Fuß“ auf den Boden der Vereinigten Staaten von Amerika zu setzen, bekommt umgehend eine Aufenthaltsgenehmigung – im Gegensatz zu allen anderen Flüchtlingen aus der Karibik. Diese absurde als „dry foot, wet foot“ bekannte Politik, die offensichtlich den Tod von Menschen in Kauf nimmt, ist ein Beispiel für die ungebrochen perverse Kuba-Politik Washingtons.

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Es bleibt abzuwarten, inwieweit die seit Mitte Januar 2012 geltende „Reisefreiheit“ für Kubaner den Fluchtweg über das Meer in Zukunft überflüssig machen wird. Denn erstmals seit einem halben Jahrhundert dürfen über 18-jährige Bürger des sozialistischen Inselstaates jetzt wieder ohne besondere vorherige Erlaubnis ins Ausland reisen. Allerdings können die Behörden missliebigen Personen weiterhin die Genehmigung verweigern, die Insel zu verlassen. Und dazu ist eine Ausreise mit dem Flugzeug auch derart kostspielig, dass es sich eigentlich nur diejenigen leisten können, die entsprechende Unterstützung von im Ausland lebenden Verwandten oder Freunden erhalten. Vielleicht ist die neue Reisefreiheit aber dennoch ein erster Schritt dahin, dass sich das gespaltene Verhältnis der Kubaner zum Meer langsam normalisiert.           

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Pedro Juan Gutiérrez empfiehlt die Lektüre von Ernest Hemingways „Der alte Mann und das Meer“, um den Charakter der Kubaner zu verstehen: die Geschichte eines alten kubanischen Fischers, von dessen großem Fang am Ende nur noch ein Skelett übrig bleibt, als er in den Hafen einläuft, weil ihm die Haie zuvorgekommen waren. In dem schmalen Büchlein stehe die Essenz dessen, was den einfachen, armen Kubaner ausmache: „Die Kubaner leben von der Illusion, der  oft vergeblichen  Hoffnung, irgendetwas zu erreichen.“ Das Meer würden die Kubaner laut Gutiérrez heute indes fast vollständig ignorieren:

„Am Malecón zum Beispiel sitzen fast alle mit dem Rücken zur karibischen See, sie blicken in Richtung der Stadt. Sie beobachten diejenigen, die vorbeilaufen, das, was die anderen machen. Den Kubaner interessiert das Meer nicht. Geh´ zum Malecón und schau dir die Menschen an. Kaum einer macht das, was sonst alle Welt macht: Einen Moment lang, ohne zu reden, auf das Meer zu blicken, um schweigend in einen Dialog mit dem Ozean zu treten. Das Meer wird geradezu als etwas betrachtet, das die Kubaner vom Rest der Welt trennt  fast so, als sei es ein Unheil vom Wasser umgeben zu sein. Ich dagegen betrachte das Meer tagtäglich dutzende Male mit großer Freude, all die verschiedenen Farbspiele, die sich einem im Laufe des Tages darbieten. Es ist wie ein kontinuierlicher spiritueller Dialog, den ich mit dem Meer führe. Manchmal bin ich für drei Monate in Madrid, und das, was mir dort wirklich am Meisten fehlt, ist das Meer. Das geht zwar vielen Kubanern so, die das Land verlassen haben, sind sie aber wieder hier, dann schenken sie ihm kaum Beachtung mehr.“

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Der Schriftsteller Leonardo Padura muss darüber schmunzeln, was sein Kollege Pedro Juan Gutiérrez sagt, wenn er sich in Rage geredet hat: „Wenn man auf dem Malecón sitzt und mit anderen Menschen kommunizieren, mit ihnen in Kontakt treten will, dann muss man dem Meer den Rücken zuwenden und sich der Stadt zuwenden. Wenn man allerdings wie Pedro Juan nachdenken und über das Leben philosophieren möchte, dann wird man aufs Meer blicken. Dass das nicht alle so machen, bedeutet für mich nicht, dass die Kubaner das Meer ablehnen. Im Gegenteil: Das Meer ist überall im Leben der Kubaner präsent. Dadurch dass viele Kubaner die Insel lange nicht so ohne weiteres verlassen konnten, mag das Meer wie eine unüberwindbare Barriere erscheinen, aber am Ende waren es schlicht und einfach politische Entscheidungen, die verhinderten, dass mehr Kubaner mit einem Flugzeug auf die andere Seite des Ozeans reisen konnten.“

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Ich saß mit Nirbis auf der schmalen Steinmauer an Baracoas Uferpromenade, und wir blickten aufs Meer. Unter dem Sternenhimmel schien sich die karibische See bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. In der Nähe Baracoas, der östlichsten Stadt der Insel und der ersten Siedlung der Spanier auf Kuba, hatte Christoph Kolumbus das „Cruz de la Parra“, ein großes Holzkreuz, als Zeichen der Inbesitznahme Kubas durch die spanische Krone in den Boden gerammt – es ist das letzte erhaltene Kreuz der spanischen Konquistadoren in der „Neuen Welt“. Ein Stück weiter südlich war schließlich 1895 der heutige Nationalheld José Martí gelandet. Nirbis, eine „India“ mit Bronze schimmernder Haut, interessierte all das nicht besonders.

Ich musste an die Irrungen und Wirrungen der karibischen Geschichte denken, wie sie der kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier in seinem großartigen Roman „El siglo de las luces“ (dt.: Explosion in der Kathedrale) beschrieben hat, an mutige Seefahrer, die gewaltsame Kolonialisierung und die tragische haitianische Revolution von 1801. Ich streckte meinen Arm Richtung Südosten aus und sagte zu Nirbis: „Dort drüben, gar nicht weit entfernt, fast zum Greife Nahe, irgendwo hinter dem Horizont, muss Haiti liegen.“ Sie sah mich verständnislos an und antwortete: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Für mich ist alles Kuba.“

Ole Schulz, Historiker und Autor, Jahrgang 1968, ist eine Berliner Landratte, die es regelmäßig in die Karibik zieht.

 

Sehnsuchtsort – 

In der Literatur und Kunst ist das Verhältnis der Kubaner zur karibischen See seit langem ein Thema – angefangen mit den poetischen Hymnen von José María Heredia y Heredia auf das Meer zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den zeitgenössischen Plastiken der Künstlerin Sandra Ramos, bei denen das Thema der Migration, des Verlassens der Heimat und der damit verbundenen schmerzlichen Erfahrungen im Mittelpunkt stehen. Schon 1943 prägte der Dichter Virgilio Piñera die Redewendung von dem „verfluchten Umstand des Wassers von allen Seiten“. Allerdings interpretierten andere die geografische Lage Kubas erheblich optimistischer. Die Anhänger der afro-kubanischen Santería-Religion etwa lassen sich von schwermütigen Poeten nicht von ihrem Glauben abbringen: Für sie ist der 7. September ein ganz besonderer Feiertag. Dann ziehen hunderte weißgekleidete „Santeros“ zum Malecón, um die Meeresgöttin Yemayá mit milden Gaben gütig zu stimmen. Eine Art Zwischenstellung nimmt der kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier ein: In seinem Roman „El siglo de las luces“, das Jahrhundert des Aufklärung (dt.: „Explosion in der Kathedrale“) steckt die karibische See den Rahmen der Handlung ab, und Kuba wird zum Ausgangspunkt einer Odyssee, die über Haiti, Frankreich, Guadeloupe bis nach Französisch-Guayana führt. Carpentier entwirft ein historisches Kaleidoskop zur Zeiten der haitianischen Revolution von 1801, das deutliche Bezüge auf die Zeitumstände in seiner Heimat nimmt, auch wenn sich die Handlung immer weiter von seiner Geburtsstadt Havanna entfernt: Das 1964 veröffentlichte Buch – fünf Jahre nachdem Fidel Castro auf Kuba den Diktatoren Batista gestürzt hatte – ist eine Parabel auf die Hoffnungen und drohenden Verwerfungen der jungen kubanischen Revolution. In den Romanen Pedro Juan Gutiérrez´ über das Leben in Centro Havanna erscheint das Meer währenddessen als ein magischer Ort, dessen Existenz dabei half, die schwierigen Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu überstehen. Im April ist bei Hoffmann & Campe „Kein bisschen Liebe“ erschienen, der fünfte und letzte Roman von Gutiérrez´ Centro Havanna-Zyklus.

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